Wirklich nur wenige Asylanträge in Niedersachsen?

Heute schreibt die Neue Presse unter der Überschrift „Zahl der Erstanträge auf Asyl in Niedersachsen relativ niedrig“, dass 2015 in Niedersachsen 438 Erstanträge auf Asyl je 100.000 Einwohner gestellt worden seien. Warum schreibt sie nicht, wie viele Anträge das insgesamt sind?

Das wäre leicht gewesen, denn in der zitierten Unterlage des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) wird diese Zahl genannt. Vielleicht war der zuständige Redakteur einfach oberflächlich. Denn die Zahl steht erst auf Seite 3. Vielleicht war er aber auch der Ansicht, die Gesamtzahl wäre den Leserinnen und Lesern nicht zuzumuten. Dafür spräche auch der in der Überschrift und im Beitrag unternommene Ansatz, diese Zahl durch die Hinweise „relativ niedrig“ und „deutlich weniger als in anderen Bundesländern“ zu relativieren. Und natürlich das Weglassen der Einwohnerzahl Niedersachsens (7.826.739 Ende 2014) als Bezugsgröße. Denn damit hätte jeder Leser sich die Zahl selbst ausrechnen können.

Wie hoch ist also die korrekte Zahl der Erstanträge? Sie beträgt 34.248. Und das klingt doch schon ganz anders als 438 pro 100.000 Einwohner, oder? Davon wurden 3.327 im Dezember gestellt. Denn der offiziellen Internetseite des Landes Niedersachsen ist zu entnehmen, dass Niedersachsen von Januar bis November 2015 genau 34.477 Asylanträge verzeichnete. 30.921 davon waren Asylerstanträge und 3.556 Folgeanträge. Damit hat sich die Zahl der Asylanträge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 14.449 Asylerstanträge und 2.721 Folgeanträge, somit insgesamt 17.170 Asylanträge; dies bedeutet einen Zuwachs von 16.472 Asylerstanträgen (+114,0 %) und von 835 Folgeanträgen (+30,7 %). Nachzulesen ist das alles unter http://www.fluechtlinge.niedersachsen.de.

Da Journalismus eigentlich nicht nur aus dem Abschreiben der Verlautbarungen irgendwelcher Institute besteht, sondern auch etwas mit Nachdenken und Recherchieren zu tun hat, müsste bei der Nennung dieser Zahlen eigentlich jeder Redakteur stutzig werden. Denn man sollte annehmen, dass die Zahl der Asylanträge in etwa der Zahl jener Menschen entspricht, die in 2015 als Flüchtling nach Niedersachsen gekommen sind. Und diese Zahl liegt deutlich höher. Immerhin sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil im Rahmen seiner Neujahrsansprache: „Weltweit sind Millionen von Menschen auf der Flucht. Und über 100.000 von ihnen sind im vergangenen Jahr zu uns nach Niedersachsen gekommen.“ Wie jetzt? Über 100.000 sind gekommen, aber nur 34.248 haben einen Asylantrag gestellt? Und was ist mit den Anderen?

Nun, die werden ihren Asylantrag noch stellen, oder sie haben ihn schon in einem anderen Bundesland gestellt. Dazu schreibt das Land Niedersachsen auf seiner Internetseite: „Das Land Niedersachsen ist nach dem Asylge­setz verpflichtet, anteilig die im Bundesgebiet um Asyl nachsuchenden ausländischen Staatsangehörigen aufzunehmen. Die Aufnahmequote richtet sich nach dem sogenannten ‚Königsteiner Schlüssel‘. In 2015 liegt die Quote für Niedersachsen bei 9,35696%.“

Dieser „offizielle“ Hinweis besagt zwei Dinge. Erstens: Niedersachsen muss nahezu zehn Prozent aller in Deutschland um Asyl nachsuchenden Menschen aufnehmen. Und zweitens: Es ist egal, wo im Bundesgebiet diese ihren Asylantrag gestellt haben. Und spätestens jetzt sollte doch jedem klar werden, dass die im Beitrag der Neuen Presse genannten Relationen „relativ niedrig“ und „deutlich weniger (Asylanträge) als in anderen Bundesländern“ völlig bedeutungslose statistische Hinweise sind, die bestenfalls darüber Auskunft geben, wie hoch die Arbeitsbelastung der in Niedersachsen mit Asylanträgen befassten Beamten ist – „relativ niedrig“ eben. Leider taugen sie aber auch dazu, Leserinnen und Leser in die Irre zu führen.

Wie viele der 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge wird Niedersachsen also aufnehmen müssen? Dazu finden sich auf der offiziellen Homepage leider keine Angaben. Dafür aber bei Gabriela Kohlenberg. Sie ist Mitglied im Niedersächsischen Landtag für die CDU und informiert regelmäßig per Newsletter über ihre Arbeit. In Ausgabe 13 aus November 2015 schreibt sie: „Aktuelle Schätzungen gehen derzeit davon aus, dass Niedersachsen im Jahr 2015 insgesamt 140.000 Flüchtlinge aufnehmen muss.“ http://www.gabriela-kohlenberg.de/pdf/Newsletter_November15.pdf. Und das klingt nun irgendwie nach noch viel mehr als 34.248 Asylerstanträge vermuten lassen, oder? Jedenfalls nach sehr viel mehr als 438 pro 100.000 Einwohner!

Im nächsten Jahr werden es übrigens mehr werden. Das sagte Entwicklungsminister Gerd Müller in der Bild am Sonntag (Ausgabe vom 10.01.2016): „Die größten Fluchtbewegungen stehen uns noch bevor.“ Und weiter: „Erst zehn Prozent der in Syrien und Irak ausgelösten Fluchtwelle ist bei uns angekommen. 8 bis 10 Millionen sind noch unterwegs.“ Nachzulesen auch unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Interview/2016/01/2016-01-10-mueller-bild.html.

Bild: © Coloures-pic

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